Pädagogik

Eindrücke zur Schulzeitverkürzung (2012)

39 Wochenstunden und noch Hausaufgaben? Abmeldung vom Klavierunterricht wegen zu wenig Zeit für die Schule? Keine Familienaktivitäten an den Wochenenden mehr wegen Lernen für Klausuren? Das sind die Themen, die auf dem Elternabend einer hessischen G8-Klasse im achten Schuljahr im Mittelpunkt standen.

Hessen hat im Rahmen der Schulzeitverkürzung und der Einführung des Landesabiturs die Arbeitsweise in der Mittelstufe stark verändert. Die Schüler durchlaufen ein straffes Programm, das dem einzelnen Lehrer kaum Freiheit lässt, Schwerpunkte zu setzen, oder auf Interessen  der Kinder einzugehen. Innerhalb der einzelnen Jahrgänge werden regelmäßig Vergleichsarbeiten geschrieben, die zur Qualitätssicherung und Evaluation des Leistungsstandes innerhalb der jeweiligen Schule dienen.

Gleichzeitig hat Hessen bis zur 7. Klasse das System der „verlässlichen Schule“, dass es Eltern ermöglicht, sich auf feste Betreuungszeiten durch die Schule zu verlassen. Ausfallender Unterricht wird vertreten, die Kinder werden zuverlässig in der Schule betreut, so dass Mütter ohne Ausfälle arbeiten gehen können.

All das zeigt seine Erfolge. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird einfacher, die Schulabschlüsse werden vergleichbarer, die Arbeitswelt kann zufrieden sein.

Aber wie wirkt sich all dieses auf das Leben und die Entwicklung der Kinder aus?

Wie wirkt es sich aus auf Kinder, die von der ersten Klasse an daran gewöhnt sind, dass ihre Nachmittag mit Hobbies fremdverplant werden? Es sind durchaus interessante Angebote, die in den Schulen gemacht werden. Bis zur Oberstufe hin bietet nahezu jede Schule ein umfangreiches Programm vielfältiger Arbeitsgemeinschaften, an denen die Kinder zusätzlich zum Unterricht kostenlos teilnehmen können.

Auch diese Angebote erleichtern das Leben der Mütter, die versuchen, neben der eigenen Berufstätigkeit ihre Kinder nicht nur zu versorgen, sondern breitgefächert zu fördern, ihnen alle Möglichkeiten zu geben, ihr Potential zu entfalten.

Mütter tun dies einerseits aus Liebe zu ihren Kindern, aus dem Wunsch heraus, ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, die Talente der Kinder zu fördern, andererseits aber auch aus Angst, Angst, das eigene Kind könne nicht mithalten, wenn etwas versäumt wird,  Angst, selbst ihrem eigenen Anspruch als gute Mutter nicht zu genügen.

Welche Kinder erzieht dieses System? Kinder, die daran gewöhnt sind, die Planungen anderer zu erfüllen? Kinder, die Aktivitäten absolvieren, Montags Schach, Dienstags Konfirmandenunterricht, Mittwochs Klavierstunde, Donnerstags Klarinettenstunde, Freitags Schulorchester. So sieht der Wochenablauf eines Vierzehnjährigen aus der eingangs erwähnten Klasse aus. Neben Schulstunden und Hausaufgaben.

Er macht all das gerne, hat sich selbst seine Aktivitäten ausgewählt. Er ist gut organisiert, hat seinen Terminkalender im Griff. Sein Freund geht Rudern, hat sich also nur für eine Aktivität entscheiden, das aber im Leistungskader, also fünfmal pro Woche. Auch er hat seine Termine und Wettkämpfe im Griff.

Diese Schüler sind Leistungsträger. Die Eltern, die auf diesem Elternabend diskutierten, haben für ihre Kinder bewusst dieses Gymnasium mit dem guten Ruf und dem hohen Anspruch gewählt. Die Bedenken, ob man das Kind vom Klavierunterricht abmelden müsse, galten der Sorge, ob das Kind dem Lernstoff zeitlich gewachsen sei.

Das Unbehagen der Eltern während dieser Diskussion beim Elternabend hatte aber auch eine andere Ursache: die Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend, die doch sehr anders war, freier und vor allem selbstbestimmter. Die Diskussion wurde auch nicht zum ersten Mal geführt, sie fand in den vergangen Jahren immer wieder auf den Elternabenden statt. Oft schwingt eine Mischung aus Bewunderung für all das, was die Kinder leisten mit, aber auch Bedauern, über das, was sie nie gehabt haben und nicht kennen. Viele Eltern sagen, sie erzählen gar nicht von hitzefrei damals und dass die ganze Klasse sich im Schwimmbad traf. Sie erzählen gar nicht von Sommerferien, die weder mit Sprachaufenthalten noch mit Praktika karrierevorbereitend gefüllt waren, sondern am See und mit Freunden verlebt wurden.

Und das ist es, was das System der Optimierung für die Arbeitswelt diese Generation kostet: die Freiräume des eigenbestimmten Lebens als Kinder und Jugendliche. Das eigene Träumen und sich selbst finden, das zur Persönlichkeitsentwicklung so notwendig und unersetzlich ist, das geht verloren unter dem Wahrnehmen der ach so vielen Angebote, dem dauernden Vergleichen und Evaluieren.

Wir Pfadfinder und Wandervögel wissen um den Wert des selbstbestimmten Lebens in der Natur und unter Gleichgesinnten.  In einer Schule, die so sehr das Leben bestimmt, dass Freiräume, um die eigene Kreativität und die eigene Lust am Leben zu entwickeln, kaum noch Platz im verplanten Schüleralltag des 21. Jahrhunderts finden. Und so sind die Kinder der G8- und Pisazeit wieder da angekommen, wo Karl Fischer mit seinen ersten Wandervögeln vom Steglitzer Gymnasium einmal losging.

(zuerst veröffentlicht in „Idee und Bewegung“ 2012)

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